„Mein Leben lang habe ich mich mit Transformation beschäftigt“: Fünf Fragen an Dr. h. c. Thomas Sattelberger
Herr Sattelberger, Sie sind ein engagierter Publizist und nehmen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs, insbesondere in Bezug auf Digitalisierung. Wieso liegt Ihnen dieses Thema so stark am Herzen?
Nach der Erfindung des Buchdrucks ist das Internet die zentrale Innovation des zweiten Jahrtausends. Vor diesem Hintergrund ist es beinahe selbstredend, sich mit Digitalisierung zu befassen. Nicht nur die Ökonomie, sondern auch die öffentliche Verwaltung und das private Leben werden von dieser Technologie durchdrungen. Und man sieht, dass sie den Menschen verändert. Es ist nicht so, dass der Mensch hier das handelndes Subjekt ist, sondern er ist zu allererst Geprägter der Technologie. Von daher ist die Auseinandersetzung damit für jemanden, der in Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik aktiv ist, ein Schlüsselthema. Wenn man dann noch die Ökonomie anschaut, die unser Wachstum und unseren gesellschaftlichen Fortschritt ganz wesentlich beeinflusst, dann ist die Digitalisierung die zentrale Wertschöpfungsquelle neben der Industrie. Man muss leider deutlich sagen, dass wir in Deutschland diese zweite Wertschöpfung verschlafen haben. Um ein Beispiel zu nennen: Das südkoreanische Bruttoinlandsprodukt besteht zu 7 Prozent aus Software. Bei uns sind es knappe 2 Prozent. Uns fehlen die großen, globalen Spieler genauso wie die Tech-Startups. Das ist ein großes Manko.
Warum braucht die deutsche Wirtschaft Ihrer Meinung nach die Gründung von kleinen, starken Unternehmen aus Wissenschaft und Forschung heraus?
In den USA und in China haben viele der Business-to-Consumer-Innovationen in der Digitalisierung bereits stattgefunden und große Digitalkonzerne betreiben längst Grundlagenforschung. Es ist unserer eigenen Schläfrigkeit geschuldet, dass wir in Deutschland viel zu wenige Unternehmen haben, die im Deep-Tech-Bereich wirklich groß und aktiv sind, obwohl im Bereich Business to Business noch viel Potenzial für Disruptive Innovationen besteht. Disruptive Innovationen im Schumpeter‘schen Sinne sind Technologien, die über neue Produkte und Dienstleistungen die Märkte restrukturieren. Egal, ob sie GPS anschauen, Smartphones oder Elektromotoren: Alte Technologie wird durch neue ersetzt. Schumpeter nennt das die kreative Zerstörung. Es ist Zerstörung, die gleichzeitig neues kreiert. Das heißt nicht, dass inkrementelle Innovationen unwichtig sind. Aber die großen Veränderungen kommen in der Regel durch disruptive Veränderungen.
Wenn ich über die Zukunft Deutschlands nachdenke, gibt es für die Wirtschaft nur zwei Wege: Transformation der etablierten Unternehmen sowie die Gründung neuer Unternehmen. Die Transformation etablierter Unternehmen ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, da deren DNA auf Legacy, Fortschreibung des alten Erfolges und wenig Experimentierfreude ausgelegt ist. Ausgründungen, und damit meine ich innovative, forschungsintensive Ausgründungen, sind wahrscheinlich leichter zu erzielen. Natürlich brauchen die später oft auch Industriepartner, aber zu allererst ist es angewandte Forschung, die transferiert wird in die kommerzielle Welt. Neben dem etablierten, sich transformierenden Mittelstand braucht Deutschland also einen Deep-Tech-Mittelstand 2.0. Deswegen lege ich so großen Wert auf Ausgründungen aus Wissenschaft und Forschung.
Im September hat das CISPA seinen eigenen Venture Capital Fonds zur Unterstützung innovativer Startups gelauncht. Wie sehen Sie als Digitalexperte und ehemaliger Manager die Rolle des CISPA für den Strukturwandel im Saarland und darüber hinaus?
Egal, ob es die Forschung oder die privat forschende Wirtschaft ist, im Kern ist ein Zentrum wie CISPA der Nukleus für den Neustart in einer Region. Strukturwandel heißt ja im Grunde, dass alte Ökonomie durch neue ersetzt wird. Das Saarland steckt schon sehr lange mitten in diesen Umbrüchen. Wenn man über Ausgründungen aus dem CISPA spricht, heißt das nicht nur, dass ein neues regionales Innovationsökosystem ensteht. Denn wenn es tatsächlich schnell skalierende Startups sind, dann reden wir über eine deutlich überregionale Wirkung. Gerade im Bereich der KI und generell der Digitalisierung können gute Unternehmen ganz schnell weltweit verankert sein.
Ich rede immer von den drei Ks: Köpfe, Kapital und Kultur. Im Grunde sind die Köpfe des CISPA, zusammen mit dem Kapital des CISPA Venture Capital Fonds, zumindest die Grundlage. Die Transformationskultur des CISPA und auch der Region ist das Schmieröl. Diese drei Sachen kommen hier zusammen. Das CISPA hat tolle Leute, die Köpfe sind da. Es hat eine tolle Innovationskultur, und es hat Kapital. Den CISPA Venture Capital Fonds halte ich für einen Schlüssel, um zu skalieren.
In Ihrer Keynote während des CISPA-Forschungsfestivals am 16. September 2023 sagten Sie, Deutschland brauche viele CISPAs. Können Sie uns erläutern, was Sie damit gemeint haben?
Wir brauchen auf dem Gebiet Gentechnologie, auf dem Gebiet Kernfusion, auf dem Gebiet maritime Technologie, auf dem Gebiet der Raumfahrt – auf allen diesen und anderen Gebieten brauchen wir solche Forschungskerne wie das CISPA. In der American Economic Review habe ich eine interessante Studie darüber gelesen, dass es beinahe ein Automatismus ist, dass sich ein Innovationsökosystem diversifiziert. Die Digitalisierung ist einerseits eine Domäne, etwas Vertikales, andererseits aber auch etwas Horizontales, das in jede andere Technologie hineinwirkt. Ich würde schätzen, dass Deutschland sechzig, siebzig solcher Innovationskerne braucht. Das Saarland selbst ist sehr digitalaffin. Da ist guter Boden da. Es gibt nicht sonderlich viele Leuchttürme in diesem Lande, aber das CISPA ist sicherlich einer davon. Der Leuchtturm braucht ein Ökosystem um sich herum. Dazu gehören Kommune, Industriepartner, Startups, high-speed Internet, Venture Capital.
Das CISPA versteht sich als Kaderschmiede für Cybersicherheits-Expert:innen. Sie selbst haben sich in führenden Positionen bei verschiedenen DAX-Konzernen um Bildung und Personalentwicklung gekümmert. Was hat Sie dazu bewegt, die Gründung der Lufthansa School of Business, der ersten deutschen Corporate University, voranzutreiben?
Ich war immer in Firmen, die nicht mehr die alten und noch nicht die neuen waren. Das heißt, Firmen, die Transformationsmotoren brauchten. Auf die Idee der Corporate University bin ich durchs Lesen gestoßen und habe mir dann die damalige Motorola University und die von General Electric angeschaut. In Deutschland gab es das alles nicht. Ich kam zu dem Ergebnis, dass man soziale Architekturen designen und implementieren kann, die tatsächlich Transformationsmotoren sind. Ich habe ein Biotop „bottom-up“ geschaffen, das sicherlich auch „top-down“ Kaderschmieden hatte. Die interessante Frage ist: Transformation „top-down“ allein, klappt das eigentlich? In den großen Unternehmen, in denen ich war, habe ich immer wieder erlebt, dass Transformation gleichzeitig „bottom-up“ war und „top-down“. Die Lufthansa School of Business sollte ein Transformationsmotor für die Lufthansa sein, eine Mischung aus Biotop und Kaderschmiede. Im Grunde ist es derselbe Gedanke wie bei CISPA. Lufthansa ist ein globales Unternehmen, CISPA ist ein Forschungsnukleus mit überregionaler Wirkung. Mein Leben lang habe ich mich mit Transformationsmotoren beschäftigt. Solange ich eine Innovationsidee verfolgen konnte, habe ich viel Mühsal auf mich genommen. Aber das ist ja in der Forschung ähnlich.