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2025-07-22
Eva Michely

„Ein Kulturwandel in der Wissenschaftssphäre“: Im Gespräch über die Africa Charter mit Professorin Isabella Aboderin

Isabella Aboderin ist Professorin für Gerontologie, Inhaberin des Perivoli-Lehrstuhls für Afrikaforschung und -partnerschaften sowie Leiterin des Perivoli Africa Research Centre (PARC). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit der Ausgestaltung von Forschungskooperationen zwischen Afrika und dem globalen Norden. Als Leiterin von PARC setzt sie sich für transformative Partnerschaften mit afrikanischen Forschenden ein und war maßgeblich an der Entwicklung der Africa Charter beteiligt. Die Africa Charter zielt darauf ab, das koloniale Erbe zu überwinden, durch das die afrikanische Wissenschaft benachteiligt worden ist - sowohl hinsichtlich ihrer Finanzierung als auch ihrer Reputation, Anerkennung und Sichtbarkeit. Im Januar 2025 unterzeichnete das CISPA die Africa Charter und wurde damit das weltweit erste nichtuniversitäre Forschungszentrum, das diesen Schritt gegangen ist. Im Interview spricht Isabella mit uns über den Kulturwandel im Forschungsökosystem, den die Africa Charter anstoßen will.

Isabella, die Africa Charter ist eine Initiative, die von führenden Hochschul- und Forschungseinrichtungen Afrikas ins Leben gerufen wurde. Können sie uns erzählen, welche Rolle PARC bei der Erarbeitung und Förderung der Africa Charter gespielt hat?

Die Reise von PARC hinsichtlich seiner Beteiligung an der Africa-Charter-Initiative begann mit einem gemeinschaftlichen Bestreben von uns am PARC und Kolleg:innen vom Institute for Humanities in Africa an der University of Cape Town (UCT) sowie vom Albert Luthuli Research Chair an der University of South Africa (Unisa). Gemeinsam haben wir reflektiert, wie wichtig es ist, über die Debatte zu „gleichberechtigten Partnerschaften“ hinauszudenken. Wir hatten das Gefühl, dass diese Debatte nur an der Oberfläche kratzt und das tiefer liegende Problem des Machtungleichgewichts nicht adressiert, das die Forschungsbeziehungen zwischen Akteur:innen in Afrika und solchen im globalen Norden prägt. Es begann also als intellektuelles Bestreben. Wir entwickelten einen neuen konzeptuellen Rahmen, um über diese Machtasymmetrien in Forschungspartnerschaften und generell in der Wissensproduktion nachzudenken und hielten die Ergebnisse in einem Paper fest. Ausgehend von dieser intellektuellen Basis traten wir und unsere Kolleg:innen von UCT und Unisa in den Dialog mit einer breiteren Gruppe von Hochschulakteur:innen auf dem afrikanischen Kontinent. Mithilfe ihrer kritischen Rückmeldungen konnten wir unsere Argumente und Zielsetzungen weiterentwickeln und schärfen. Gemeinsam mit diesen Institutionen haben wir schließlich die Africa Charter formuliert.

Die Africa Charter setzt sich für transformative Forschungspartnerschaften mit afrikanischen Wissenschaftler:innen ein. Wie würden wirklich transformative Kooperationen konkret aussehen?

Als Erstes muss man das Wort „transformativ“ wirklich ernst nehmen. Heutzutage wird alles als „transformativ“ bezeichnet – es ist in vielerlei Hinsicht zu einem leeren Wort geworden. Was die Charter jedoch meint, ist eine Form der Forschungszusammenarbeit, die – wenn sie breit etabliert würde – tatsächlich systemische Veränderungen anstoßen könnte: eine Neuausrichtung der Positionierung Afrikas gegenüber dem globalen Norden, insbesondere auf systemischer Ebene. Aus diesem Grund verwenden wir das Wort „transformativ“.

Wie würde eine solche transformative Form der Zusammenarbeit aussehen? Abstrakt gesprochen wäre es eine Form der Kooperation, die aktiv versucht, jede der vielen Ebenen des Machtungleichgewichts zu korrigieren, die derzeit die wissenschaftliche Wissensproduktion in, mit, für und durch Afrika durchziehen. Wenn über „Gleichberechtigung“ in Forschungspartnerschaften gesprochen wird, liegt der Fokus meist auf den Machtasymmetrien, die auf der Ebene konkreter Projektstrukturen entstehen – etwa bei der Aufgabenverteilung, der Entscheidungshoheit, der Kontrolle über Proben und Daten oder bei der Frage, wer als Autor:in von gemeinsamen Publikationen oder anderen Ergebnissen genannt wird. All das ist von zentraler Bedeutung, aber es muss darüber hinaus auch darum gehen, die tieferliegenden Ebenen des Machtungleichgewichts anzugehen.

Was sind diese tieferliegenden Ebenen des Machtungleichgewichts, die eine transformative Form der Zusammenarbeit adressieren würde?

Fangen wir mit der Kernproblematik an: der Dominanz eurozentrischer Wissensformen und der Annahme, dass diese universell gültig seien – und damit der Ausgrenzung aller anderen Wissensformen. Transformative Zusammenarbeit muss versuchen, den wissenschaftlichen Kanon zu dezentrieren und Raum für bestehende, neue Formen des Wissens zu schaffen.

Eine zweite Ebene des Machtungleichgewichts betrifft die Sprache – und sie ist eng mit der ersten Ebene verbunden: Es geht darum, relevante afrikanische Sprachen stärker in den Mittelpunkt der Forschungskonzeption zu stellen – also bei der Formulierung der Forschungsfragen und der Probleme, die untersucht werden sollen – und nicht auf Englisch oder Französisch zurückzugreifen.

Die dritte Ebene ist ebenfalls eng mit den beiden ersten verbunden und betrifft eine Dezentrierung der Theorien, Konzepte und Kategorien, mit denen wir arbeiten. Wir müssen Wege finden, solche Konzeptualisierungen „von unten“ zu entwickeln und auf bestehende theoretische Arbeiten aus Afrika oder dem globalen Süden zurückzugreifen. Denn auch dort gibt es relevante kritische Theoriebildung.

Die vierte Ebene des Machtungleichgewichts betrifft den sogenannten Entwicklungsrahmen: Forschende, die eine Kollaborationsprojekt aufsetzen möchten, werden durch die verfügbaren Förderstrukturen eingeschränkt – viele dieser Förderprogramme sind entlang von Entwicklungszielen oder den SDGs ausgerichtet. Diese Art von Rahmen schafft ein Machtungleichgewicht, das man nur überwinden kann, wenn man bewusst die Blickrichtung umkehrt: Lasst uns nicht nur auf Probleme in Afrika schauen, sondern ebenso auf Probleme im globalen Norden oder in der Welt, und lasst afrikanische Forschende basierend auf ihren eigenen Interpretationen diese Probleme untersuchen.

Und schließlich betrifft eine weitere Ebene eher die Förderinstitutionen selbst, wenn es nämlich darum geht, Ressourcen so zu vergeben, dass institutionelle Kapazitäten auf Seiten der afrikanischen Partner gefördert werden.

Welche Auswirkungen hätten transformative Kooperationen auf die globale Wissenschaft?

Letztlich würde man nach und nach eine Verschiebung der Arten von Wissen sehen, die Teil des Kanons bilden. Man würde eine Veränderung hinsichtlich der Expert:innen für bestimmte Themen sehen – es gäbe mehr afrikanische Forschende als Expert:innen in bestimmten Fachgebieten und das würde die globale Wissenschaft bereichern. Als Wissenschaftler:innen streben wir alle nach neuen Perspektiven auf die Herausforderungen, die uns gegenüber stehen. Je vielfältiger unser Erkenntnisstreben ist und je mehr wir aus allen Wissensarchiven der Welt schöpfen, desto besser werden wir in der Lage sein, diese Herausforderungen zu bewältigen. Letztendlich profitieren wir alle davon.

"Als Wissenschaftler:innen streben wir alle nach neuen Perspektiven auf die Herausforderungen, die uns gegenüber stehen. Je vielfältiger unser Erkenntnisstreben ist und je mehr wir aus allen Wissensarchiven der Welt schöpfen, desto besser werden wir in der Lage sein, diese Herausforderungen zu bewältigen. Letztendlich profitieren wir alle davon."

Welche konkreten Maßnahmen können die Unterzeichner ergreifen, um das Ziel transformativer Forschungspartnerschaften zu erreichen?

Vielleicht ist es hilfreich, dabei in zwei Bereichen zu denken: Zum einen geht es darum, was die Unterzeichnerinstitutionen in Bezug auf ihre eigenen internen Richtlinien und Praktiken tun können. Zum anderen stellt sich die Frage, was Institutionen gemeinsam tun können, um sich für Veränderungen in übergeordneten Systemen, Strukturen oder Kriterien einzubringen, die den Hochschul- und Forschungsbereich in übergeordneter Weise betreffen. Wenn wir uns zunächst auf den ersten Bereich konzentrieren: Es beginnt damit, die Menschen innerhalb der Institution einzubeziehen – Forschende ebenso wie Mitarbeitende in der Forschungsadministration und Studierende –, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema zu fördern, damit es Teil des institutionellen Bewusstseins wird.

Dann sollten wir unsere internen Richtlinien und Praktiken in den Blick nehmen: Was fördern und ermöglichen wir als Institution, und was eben nicht? Aufbauend auf diesen kritischen Reflexionsprozessen sollten wir Wege finden, diese Perspektiven auch in die Ausbildung und Kompetenzentwicklung unserer Studierenden einzubringen – sodass Theorie und Praxis transformativer Partnerschaften schon Teil ihres Denkens werden können, wenn sie ihre wissenschaftliche Laufbahn beginnen.

Außerdem sollten wir unsere bisherigen oder laufenden Forschungs-partnerschaften im Lichte des Charter-Frameworks betrachten: Wo arbeiten wir bereits im Sinne der Prinzipien der Charta, wo aber tun wir das nicht? Wo reproduzieren wir dieselben Machtungleichgewichte, die Teil des Problems sind? Und wie könnten wir anfangen, diese zu adressieren? Es ist ein Prozess, der alle Beteiligten einbeziehen muss, um offen und kritisch zu reflektieren und dann die guten Praktiken zu destillieren.

Können Sie beschreiben, welche Auswirkungen die Ungleichheiten und Machtasymmetrien im globalen Forschungssystem für die afrikanische Wissenschaft gehabt haben?

Ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit, die auf dem afrikanischen Kontinent geleistet wird, war lange Zeit extravertiert – sie war ausgerichtet auf Agenden, die anderswo formuliert wurden, auf Problemstellungen, die anderswo identifiziert wurden, unter Verwendung theoretischer Rahmen, die anderswo entwickelt wurden. Das hatte zur Folge, dass afrikanische Wissenschaftler:innen kaum die Möglichkeit hatten, international anerkannte Expert:innen in einem bestimmten Fachgebiet zu werden.

Häufig bedeutet das Machtungleichgewicht, dass die Projektleitung (Principal Investigator, PI) im Norden liegt – und wenn man sich die Arbeitsaufteilung anschaut, sind es oft die PIs, die die konzeptionell wertvollere Arbeit leisten, während afrikanische Partner:innen „glorifizierte Datensammler:innen“ bleiben, wie es ein Kollege von mir einmal bezeichnet hat. Ebenso wurden afrikanische Institutionen bislang kaum als Orte anerkannt, die Wissen produzieren, das relevant für die Welt ist.

Auf einer übergeordneten Ebene hat die Positionierung von Forschenden und Institutionen auch dazu geführt, dass Afrika kaum Einfluss auf die Formulierung globaler Agenden nehmen konnte. Denn die Prozesse, die solche Agenden gestalten, beruhen in der Regel auf Expertengremien, die an besonders hochkarätigen Universitäten angesiedelt sind. Diese Ausgrenzung von der Wissensproduktion bedeutet, dass afrikanische Akteur:innen kaum Einfluss auf  Agenden nehmen können, die am Ende mitbestimmen, was Afrika tun kann oder eben nicht tun kann. 

Inwiefern unterscheiden sich erkenntnistheoretische Systeme in Afrika und im globalen Norden?

Es würde sehr lange dauern, diese Frage zu beantworten, aber ich hoffe, ich kann zumindest eine Vorstellung davon vermitteln. Was zählt, ist das Prinzip, bestehenden Wissenssystemen Raum zu geben, wie etwa den indigenen Wissenssystemen, von denen es viele gibt, nicht nur in Afrika. Diesen Arten, die Welt zu interpretieren, muss Raum gegeben werden. Indigene Wissenssysteme sind ein Beispiel, aber es gibt auch das, was manche Autor:innen als „gemeinschaftsbasierte Wissenssysteme“ bezeichnen. „Gemeinschaft“ kann dabei auf verschiedene Arten definiert werden, sie ist nicht zwangsläufig an einen geografischen Ort gebunden. Es braucht eine echte Auseinandersetzung mit diesen Interpretationen davon, wie die Welt funktioniert, und auch mit der Frage, inwiefern sie sich vom Kanon unterscheiden. Ergänzen sie ihn? Bereichern sie ihn? Widersprechen sie ihm? Die Antworten auf diese Fragen hängen davon ab, wo man hinschaut, denn es gibt hier eine große Heterogenität.

Seit dem Launch der Africa Charter im Jahr 2023 ist sie von mehr als 100 Institutionen unterzeichnet worden. Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft der Charter aus? Was wäre das bestmögliche Ergebnis, das Sie sich vorstellen könnten?

Ich würde sagen, ein weitere Zunahme an Institutionen, die die Charta unterzeichnen und sie auch ernst nehmen. Und dann auch breit angelegte Prozesse des echten Austauschs über die angesprochenen Themen, Reflexion bestehender Kooperationspraktiken, das Identifizieren von guten Beispielen – dort, wo es sie bereits gibt – und die schrittweise Umsetzung dieser Modelle in der Praxis. Mit der Zeit würden wir so ein deutliches Wachstum an kollaborativen Forschungsprojekten über Fachgrenzen hinweg sehen, die sich bemühen, die Prinzipien der Charta in der Praxis umzusetzen. Ebenso wünsche ich mir, dass immer größere Zahl an Institutionen – und damit meine ich auch Förderorganisationen, Verlage sowie Hochschulen und Forschungseinrichtungen – strategische Anpassungen an ihren internen Richtlinien vornehmen, sodass ein transformatives Partnerschaftsmodell ermöglicht und gefördert wird. Und schließlich wünsche ich mir einen reicheren Diskurs zu den Themen, die die Charta aufwirft, sodass wir in zwei, drei, vier oder fünf Jahren eine differenziertere, ausgefeiltere Fassung der Charta haben, vielleicht sogar spezifische Versionen für einzelne Fachbereiche. Was das am Ende bedeuten würde, ist ein kultureller Wandel in der gesamten Wissenschafts- und Forschungssphäre.